Nun hat Schwarze Kohle, dünnes Eis im Original. Bai Ri Yan Huo den Hauptpreis der 64.Berlinalezugesprochen bekommen, und von ihm führt ein weiter Weg zurück zu dem Roten Kornfeld von Zhang Yimou, der vor einem Vierteljahrhundert den ersten Goldenen Bären nach China holte. Filmsprache, Thema, Theatralik alles erschien damals wie von einem anderen Stern, und selbst der letzte chinesische Bär vor sieben Jahren, Tuyas Hochzeit, folgte noch einer selbstständigen, nicht westlichen Ästhetik.
Und nun dieser Chino Noir. Er stand in seiner Umarmung von West Genres durchaus nicht allein auf dieser Berlinale. Ning Haos Glasnudel-Western Niemandsland Wu Ren Qu erinnerte genüsslich-unverhohlen an die Spaghettis eines Leone und Corbucci, und Zhou Haos Sexarbeiter Drama Die Nacht Ye hätte aus dem dänischen Dogma Labor stammen können.
Es tut sich also etwas in dem Land, das Hollywood als zweitgrößten Kinomarkt der Welt identifiziert hat, und es ist das Verdienst der Berlinale Jury, darauf aufmerksam gemacht zu haben; sie hat ja außer dem Goldenen noch zwei Silberne Bären nach China geschickt, für Liao Fan als besten Darsteller und für Zheng Jians Kamera in Blindmassage Tui Na, worin anhand einer Praxis blinder Masseure vom Alltag des modernen Chinas erzählt wird.
Nun hat China die Angewohnheit, in Dynastien zu denken, selbst bei seinen Filmregisseuren. Die werden nach Generationen eingeteilt, verbunden durch Themen und Lebensumstände. Die fünfte Generation, zu der Zhang Yimou zählt, speist sich aus den ersten Jahrgängen der 1978 nach der Kulturrevolution wieder eröffneten Filmakademie und formulierte, künstlerisch verbrämt, erste Kritik am kommunistischen System. Die sechste Generation, auch Klasse von 1989 genannt, strebte mit kleinen Budgets nach einem unabhängigen Kino und begab sich vom traditionsverhafteten Land in die vor Moderne explodierenden Städte.
Man sollte nun wohl, darauf hat uns die Berlinale Jury gestoßen, eine siebte Generation ausrufen, und ihr Kennzeichen wäre das wohlige Eintauchen in den globalen, den westlichen Mainstream. Das Spektrum reicht von Blockbuster-Regisseuren wie Zhang Yimou der in regimekonformen Epen wie Die Blumen des Krieges schon mal einen Hollywood-Star wie Christian Bale einsetzt bis zu Arthaus-Konfektionären wie Diao Yinan, bei denen man nicht so genau weiß, ob für sie das Genre die Schutzhülle darstellt, in die man eine Prise Kritik mit hineinpacken kann, oder ob sie einfach im Genre schwelgen möchten.
Am Ende von Schwarze Kohle, dünnes Eis jedenfalls werden die Ermittler so lange von einem Tagesfeuerwerk beschossen, bis sie Leine ziehen. Ist das ein politisches Statement? Und ans Ende seines Niemandslands hat Ning Hao eine absurde Szene gehängt, in der die Heldin in einer Ballettschule zu arbeiten beginnt, mit Sicherheit ein Zugeständnis an die Zensoren, die Überführung von zwei Stunden reiner Anarchie in einen geordneten Zustand. Auf jeden Fall hat die Globalisierung der Filmsprache und der kulturellen Codes nun auch China angesteckt, und das ist nicht wirklich Grund zum Feiern.
Solch ein Schlaglicht auf die Entwicklung der Kinematografie zu setzen ist das Privileg einer Jury – aber führt auch dazu, dass manchmal nicht der bemerkenswerteste Film ausgezeichnet wird. Das war im Berlinale-Jahrgang 2014 Richard Linklaters Coming-of-Age-Geschichte "Boyhood". Er handelt von dem Aufwachsen des Jungen Mason, der am Anfang als Sechsjähriger auf dem Rasen liegend den Wolken nachsieht und am Schluss als Achtzehnjähriger mit Kumpels seinen ersten Haschkeks verzehrt.
Nun ist dies keine Langzeitdokumentation wie die deutschen Kinder von Golzow und auch kein normaler Spielfilm, bei dem Mason von drei verschiedenen Darstellern in verschiedenen Altersstufen gespielt würde. Man könnte es Realzeitfiktion nennen, denn Linklater hat seinen Film über elf Jahre in Etappen gedreht, und wir können die Figuren ohne jegliche Hilfe des Maskenbildners altern sehen, Patricia Arquette als Selbstverwirklichungsmutter, Ethan Hawke als Vater-Hallodri und vor allem die Kinder wie bei Ellar Coltranes Mason aus Träumerei künstlerische Neigung erwächst und sich bei Lorelei Linklater Richards Tochter als Masons Schwester Extrovertiertheit in Zurückhaltung wandelt.
Linklaters Konzept eine fiktive Geschichte mit dem realen Vergehen von Zeit zu koppeln ist einmalig in der Filmgeschichte Lars von Trier hat ein ähnliches Projekt namens Dimension nach einigen Jahren aufgegeben) und funktioniert auch in der Praxis wunderbar; ihn dafür mit dem Bären für die beste Regie abzuspeisen ist zu wenig, zumal er den für Before Sunrise schon 1995 gewonnen hat. Man erklärte sich die Entscheidung damit, dass "Boyhood" schon auf dem Sundance Festival bejubelt worden sei und dass das der Jury möglicherweise nicht geschmeckt habe.
Aber, das zum Trost, auch Michael Haneke bekam für seinen besten Film, für Caché, in Cannes nur den Regiepreis und die Goldene Palme folgte, quasi als Wiedergutmachung, ein paar Jahre später für Das weiße Band. Aber Dominik Grafs Geliebte Schwestern sind sogar ganz leer ausgegangen, obwohl auch sein Kostümfilm etwas Tolles anstellt. Statt uns historische Figuren hier Friedrich Schiller und die Lengefeld Schwestern als total moderne Menschen zu verkaufen, belässt er sie in ihrer historischen Fremdheit und wir sind trotzdem brennend an ihnen interessiert.
Editor: Julian Ovidiu B & APPF